Tanja Glawe und Jürgen Timm,
Supply Chain Finance der NORD/LB

„Flexibel auf wachsende und volatile Probleme der Welt reagieren“

Supply Chain Finance hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Produkte entwickelt, wenn es darum geht, die Liquidität eines Unternehmens zu sichern. Dabei spielen die anhaltenden Spannungen in den Lieferketten, aber auch die Rohstoffmärkte eine tragende Rolle. Wie Supply Chain Finance eine Win-Win-Situation für Händler und Lieferanten darstellen kann, erklären unsere Supply Chain Finance-Spezialisten im Interview.

Lieferketten und Rohstoffmärkte sind durch den Ukraine-Krieg und Post-Covid Belastungen weiter beeinträchtigt. Inwiefern kann Supply Chain Finance hier hilfreich sein, Lieferantenbeziehungen und Liquidität zu stabilisieren?

Timm: Angesichts der allgemeinen Lage sind Spielräume in der Liquidität für die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen heute entscheidend für das langfristige Überleben. Für uns als Bank ist das Thema Supply Chain Finance daher besonders wichtig, um vielen unserer Kunden helfen zu können. Es begann mit regionalen Corona-bedingten Lieferengpässen und ist inzwischen auf viele Branchen und Regionen angewachsen. Mancherorts ist heute Vorkasse notwendig, um Ware überhaupt zu erhalten. Diese Situation stellt viele Unternehmen vor große Probleme.

Glawe: Als Faustregel gilt: Je tiefer die Wertschöpfungskette, desto größer der Bedarf. Insbesondere Unternehmen im Handel haben hier derzeit schlaflose Nächte. Und: es verändert sich das ganze Umfeld. Covid oder die Ukraine sind nicht allein die Auslöser. Wir kennen auch Beispiele, bei denen Kunden Supply Chain Finance-Produkte anfragen, weil sie selbst verstärkt kurze Zahlungsziele haben und bei ihren Lieferanten keine Verlängerung durchsetzen können. Die wohl schlechteste Variante: Ein Unternehmen ordert Produkte beispielsweise in China gegen Vorkasse, muss diese zunächst wochenlang transportieren, dann hier einlagern und verarbeiten. Und liefert schließlich noch an Kunden mit einem langen Zahlungsziel. Da ist wirklich Kreativität gefragt, um die Liquiditätssicherheit zu gewährleisten. Oder um unternehmensinterne Steuerungsgrößen einzuhalten.  

Erklärvideo: Digitale Lieferantenfinanzierung

Wie lässt sich das Working Capital einer Organisation durch Tools wie dem Reverse Factoring optimieren?

Timm: Unternehmen schauen heute in punkto Finanzierung sehr genau hin. Je größer das Working Capital, desto sinnhafter ist eine Supply Chain Finanzierung. In solchen Situationen hilft wirklich jeder Tag, den man nicht finanzieren muss. Die Kernfrage hier ist: Wie gelingt es, möglichst flexibel auf wachsende und volatile Probleme der Welt zu reagieren?

Glawe: Flexibilität kann durch Reverse Factoring Lösungen ermöglicht werden. Je nachdem, welche Bedürfnisse das Unternehmen hat, können Varianten mit Einbindung der Lieferanten oder das stille Reverse Factoring in Frage kommen. Beim stillen Reverse Factoring zum Beispiel kann ein Unternehmen seine Lieferantenverbindlichkeiten unverändert zum vereinbarten Zahlungsziel - oder auch früher - bezahlen. 

Unter Einbindung unseres Kooperationspartners erhält das Unternehmen ein zusätzliches neues Zahlungsziel von beispielsweise 60 Tagen. Dies ist eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Der Lieferant erhält pünktlich oder sogar etwas früher sein Geld, und das Unternehmen profitiert von einem längeren Zahlungsziel und stärkt somit sein Working Capital.

Ein weiteres Instrument von Supply Chain Finance ist das sogenannte Dynamic Discounting, welche Vorteile ergeben sich für Lieferanten und Abnehmer?

Glawe: Dynamic Discounting erlaubt eine flexible Bezahlung des Lieferanten, bei der Einkäufer von einem dynamischen Diskontertrag profitieren können. Angenommen ein Unternehmen hat ein Zahlungsziel von 30 Tagen, hätte aber lieber ein längeres, während sein Lieferant ein kürzeres Zahlungsziel favorisieren würde – dann sprechen wir von divergierenden Interessen. An dieser Stelle kommen wir als Bank ins Spiel, weil wir die Interessen beider Parteien über unsere Finanzierungsinstrumente und Kooperationspartner miteinander in Einklang bringen können. Das ist sozusagen originäre Bankenintermediation. Der Abnehmer verfügt über Liquidität und der Lieferant kann bestimmen, wann er das Geld bekommt und mit welchem Abschlag.

Konkret funktioniert Dynamic Discounting so: Der Lieferant hat die Möglichkeit, seine Forderung über eine Plattform mit einem Discountabschlag früher als zum vereinbarten Zahlungsziel vom Käufer zahlen zu lassen. Dabei wird der Discountpreis immer geringer, je näher man an das Zahlungsziel heranrückt. Für den Käufer ist dabei der größte Vorteil, dass er die eigene Liquidität für die Frühzahlung des Lieferanten zur Verfügung stellt und dadurch zudem Erträge mit positiven EBITDA-Effekt erzielen kann. Der Lieferant hingegen profitiert von einem früheren Liquiditätszufluss und kann ggf. von dem geringeren Zins seines größeren Abnehmers profitieren: Er tauscht im Prinzip seine eigenen Finanzierungskonditionen gegen die besseren des anderen ein und hat so Zinsvorteile, die sich in barer Münze auszahlen.

Supply Chain Finance hat sich zu einem der beliebtesten Finanzierungsmodelle der letzten Jahre entwickelt, welche Faktoren haben diesen Erfolg maßgeblich beeinflusst? Wie wird sich dieser Zweig in Zukunft entwickeln?

Timm: Man merkt, dass sich die Lieferantenketten und auch die Akteure viel stärker miteinander verknüpfen und interagieren. Dies geht nur, wenn Plattformern zwischengeschaltet sind, auf denen automatisierte und technisch optimierte Interaktionen tausendfach wiederholt ohne größere manuelle Eingriffe oder vertragsrechtliche Auswirkungen vorgenommen werden können. Ich glaube, wir werden auch künftig deutlich mehr solcher Plattformen sehen.

Das Meiste spielt sich in der Wertschöpfungskette ab, bevor die Ware beim Kunden ankommt. Daher hilft es, die Lieferanteninteraktionen zu digitalisieren und Transparenz herzustellen. Das müssen die Banken aktiv begleiten und für ihre Finanzierungszwecke nutzen. Die NORD/LB bietet bereits jetzt verschiedene Möglichkeiten und die Zusammenarbeit mit Plattformen an – wir sind hier aber offen für Weiteres, denn es gibt viele spannende Anbieter und Produkte am Markt.

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